Statius on stage: „Argia und Antigone oder das Lied von Theben“

Dramatische Bearbeitung der Bücher 11 und 12 der Thebais

Ein Gemeinschaftsprojekt von Lehrenden und Studierenden der Universität Wien, 
organisiert vom Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein 
(Gesamtkonzeption: Univ.-Prof. Dr. Andreas Heil)

 

Vorgeschichte

An den Feierlichkeiten zum 20-jährigen Bestehen des Campus der Universität beteiligte sich im September 2018 auch eine Gruppe von Lehrenden und Studierenden des Instituts für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein unter Leitung von A. Heil. Erfolgreich wurde eine auf den ersten und dritten Akt beschränkte Teilinszenierung von Senecas Troades/Troas realisiert: „Seneca: ‚Die Trojanerinnen‘ oder zeitloses Kriegsleid“. Zwei weitere Aufführungen des Stückes folgten 2019. Eine vierte Aufführung, die im Rahmen der „Langen Nacht der Forschung“ an der Universität Wien für 2020 geplant war, musste leider wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt werden. Nach dem Ende der Pandemie sollte diese praktische Theaterarbeit fortgesetzt werden: Ziel war es diesmal, einen epischen Text – die beiden letzten Bücher der Thebais des flavischen Epikers Statius – für die Bühne zu bearbeiten.

Entwicklung und Ziele des Theaterprojekts: Ein Epos auf der Bühne

Die Idee zu diesem Projekt entstand im Anschluss an einen im Dezember 2021 von C. Schwameis und B. Söllradl in Wien veranstalteten Workshop mit dem Titel „Gattungstheorie und transgressive Praxis im nachvergilischen Epos“. Thema des Workshops war u.a. die gerade in der jüngeren Forschung wiederholt behauptete Nähe von Statius’ Thebais zur Tragödie. Kann das ‚tragische Epos‘ des Statius tatsächlich auf der Bühne bestehen? – diese Frage sollte in einem „philologischen Experiment“ geprüft werden. Das wissenschaftliche Interesse bestand also darin, auszuloten, inwiefern die Inszenierung besonders ‚dramatischer‘ Szenen der Thebais tatsächlich einen Mehrwert produziert, also zu einem besseren Verständnis des hybriden, zwischen Epos und Tragödie changierenden Textes führt. Daneben spielten aber wie schon bei der Aufführung der „Trojanerinnen“ weitere Gesichtspunkte eine Rolle: Das Projekt knüpfte direkt an die Lehre an – manchen Studierenden war die Thebais schon aus zwei Lektürekursen und einer Vorlesung bekannt – und eröffnete ganz grundsätzlich die Möglichkeit, besser zu verstehen, auf wie unterschiedliche Weise narrative und dramatische Texte funktionieren. Zugleich aber sollte durch die originelle dramatische Bearbeitung ein durchaus bedeutender, aber heute im allgemeinen Bewusstsein kaum mehr präsenter Text der römischen Literatur einem breiteren Publikum nahe gebracht werden. 

Besonderheiten der dramatischen Bearbeitung

Deshalb wurde eine neue Übertragung der für die Verwendung im Stück vorgesehenen Passagen aus Thebais 11 und 12 angefertigt. Der epische Hexameter der Vorlage wurde dabei in ausgewählten Szenen durch jambische Verse ersetzt. So sollte auch auf der metrischen Ebene die Verwandlung des narrativen in einen dramatischen Text betont werden, war doch der jambische Trimeter der vorherrschende Sprechvers der antiken Tragödie. In der Übertragung wurden einzelne kurze Zitate auf Latein beibehalten, um an das lateinische Original zu erinnern. Da in der Antike Theater ohne Musik undenkbar ist, wurden Instrumental- und Gesangspartien ergänzt. Für die Lieder wurden neue lateinische Texte selbst verfasst. Zum besseren Verständnis werden hier in der Aufführung zweisprachige Obertitel eingeblendet. Durch diese Bündelung wissenschaftlicher, didaktischer und künstlerischer Interessen fügte sich das „philologische Experiment“ perfekt in die Veranstaltungsreihe „Arts & Science“ ein, in deren Rahmen die Welturaufführung von „Argia und Antigone oder das Lied von Theben“ im September 2022 stattfand.

Die Bestattung des Polynikes: Sophokles, Antigone

Den Namen „Antigone“ kennt jeder, aber wer war Argia? Ihre Bekanntheit verdankt Antigone vor allem der gleichnamigen Tragödie des Sophokles. Die Vorgeschichte ist folgende: Eteokles und Polynikes übernehmen von ihrem Vater Ödipus die Macht über Theben. Die Brüder vereinbaren, sich jährlich in der Herrschaft abzuwechseln. Schon nach Ablauf des ersten Jahres verweigert aber Eteokles Polynikes den Thron. Dieser hatte inzwischen in Argos die Tochter des dortigen Königs Adrast geheiratet: eben Argia. Mit Unterstützung seines Schwiegervaters und weiterer Heerführer greift er seine Heimatstadt an: der sog. ‚Zug der Sieben gegen Theben‘. Die argivischen Anführer (mit Ausnahme des Adrast) fallen nacheinander in der Schlacht. Höhepunkt und Ende des Krieges ist der Zweikampf der Brüder, die sich gegenseitig töten. Im Anschluss übernimmt Kreon die Macht in Theben und verbietet die Bestattung des Aggressors Polynikes. Hier setzt die Tragödie des Sophokles ein. Antigone entschließt sich, den Bruder gegen den Befehl des Königs symbolisch zu bestatten, ein Liebesdienst, für den sie letztlich mit dem Leben bezahlen muss. Sophokles zeigt uns Antigone als eine völlig isolierte Heldin. Aber der Mythos wurde auch anders erzählt.

Die Bestattung des Polynikes: Statius, Thebais 12

In der Fassung, der Statius folgt, bestatten Argia und Antigone Polynikes gemeinsam. Dazu kommt es auf folgende Weise: Nach dem Ende des Krieges brechen die Frauen aus Argos auf, um sich in Theben um Totenklage und Bestattung ihrer gefallenen Männer zu kümmern. Ihnen begegnet der in umgekehrter Richtung in die Heimat zurückkehrende Soldat Ornytus. Sein Bericht über das Bestattungsverbot Kreons führt dazu, dass die Frauen sich auf Argias Vorschlag hin aufteilen: Sie selbst setzt ihren Weg nach Theben fort – angeblich, um beim König zu intervenieren, in Wirklichkeit, um ihren Ehemann auf eigene Faust zu bestatten. Die anderen Frauen brechen nach Athen mit dem Ziel auf, Theseus zum Eingreifen zu bewegen. Argia erreicht mit ihrem Diener Menoetes in der Nacht das Schlachtfeld, findet den Leichnam und beginnt die Totenklage. In diesem Augenblick erscheint Antigone. Nach der Anagnorisis legen beide gemeinsam den Leichnam des Ehemanns resp. Bruders auf den einzigen noch brennenden Scheiterhaufen. Und dieser Scheiterhaufen ist der des Eteokles. Der unmittelbar einsetzende Kampf der Flammen setzt den Streit der Brüder über den Tod hinaus fort, ein unerhörtes prodigium, das erst durch ein ebenso unnatürliches Erdbeben seinen Abschluss findet. Nachdem die von Kreon auf dem Schlachtfeld postierten Wächter die Frauen ergriffen haben, streiten diese offen und ohne Angst um den Ruhm, ihrem Toten die letzte Ehre erwiesen zu haben. Schließlich lassen sie sich freiwillig abführen, um gemeinsam in den (scheinbar) sicheren Tod zu gehen.

„Argia und Antigone oder das Lied von Theben“: der Aufbau des Stückes

Akt 1

Da im Zentrum unseres Stückes die Bestattung des Polynikes durch Argia und Antigone stehen sollte, wurde aus Gründen der Ökonomie ein Einsatz der Handlung nach dem Tod der Brüder gewählt. Der Höhepunkt des elften Buches der Thebais, der Zweikampf, wird daher nur aus der Rückschau präsentiert. Da die Begegnung der Furien am Anfang des elften Buches der Thebais bereits Züge eines tragischen Prologs aufweist, sollte diese Szene unbedingt beibehalten werden. Anders als bei Statius, wo Tisiphone ihre Schwester Megaira erst kurz vor dem Zweikampf zur Hilfe ruft, agieren die Furien aber von Anfang an als Team: Im Prolog blicken sie zurück auf das, was sie gemeinsam und zugleich in Konkurrenz miteinander bereits geleistet haben. Dabei nimmt der Brudermord als Höhepunkt ihrer konzertierten Aktion ein besonderes Gewicht ein. Tisiphone beschließt den Prolog mit der Ankündigung des Regierungswechsels in Theben. Kreons Herrschaft steht so von Anfang an im Zeichen der Furien. In den folgenden Szenen des ersten Aktes werden die Situation in Theben und alle wichtigen ‚Player‘ dort eingeführt: Antigone, Ödipus und Kreon. Das von Kreon verkündete Bestattungsverbot ist die Voraussetzung für die folgenden Akte, welche die Reaktionen zeigen: Argia und Antigone entschließen sich unabhängig voneinander dazu, das Verbot zu übertreten.

Akt 2

Die Akte 2 bis 4 spielen alle in der Nähe von Theben bzw. auf dem leichenübersäten Schlachtfeld vor Theben. Sie schließen sich sehr eng an die bereits oben besprochene Handlungsfolge in Thebais 12 an. Zunächst werden die argivischen Frauen (Eriphyle, Deipyle, Atalante, Euadne) vorgestellt, die jeweils ihre Geschichte erzählen: Sie berichten, was sie vom Tod ihrer Männer bzw. ihres Sohnes (Amphiaraus, Tydeus, Parthenopaeus, Kapaneus) gehört haben. Diese stark narrativ geprägte Partie schließt mit einem Chorlied, in dem die Frauen sich gegenseitig trösten: Dabei handelt es sich um eine lateinische Fassung von „Where Have All the Flowers Gone“ / „Sag mir, wo die Blumen sind“ (Pete Seeger / Max Colpet). 

Akt 3

Nachdem der Soldat Ornytus die Frauen über das Bestattungsverbot informiert hat, setzen Argia und ihre bei uns weibliche Dienerin Menoitia ihren Weg nach Theben allein fort. Hier kam es besonders darauf an, der Figur der Argia, die Statius als neue Heldin neben die „berühmte Antigone“ (Theb. 12,331f.) stellt, die nötige Tiefendimension zu verleihen. Dies geschieht wie ansatzweise bereits in der Thebais durch eine Reihe von Rückblenden: Argia durchlebt in Visionen erneut zentrale Episoden ihrer Beziehung zu Polynikes: Aus Liebe zu ihrem sie manipulierenden Ehemann hat sie sich bei ihrem Vater Adrast für den Krieg eingesetzt. Jetzt muss sie mit den Konsequenzen leben. Höhepunkt ist ein Lied Argias: eine lateinische Fassung von „I Dreamed a Dream“ aus dem Musical „Les Misérables“ (Musik: Claude-Michel Schönberg; Text: Alain Boublil/Herbert Kretzmer).

Akt 4

Die durch die Visionen bei Argia genährte Hoffnung, sie könne über den Tod hinaus Polynikes nahe bleiben, wird bitter enttäuscht: Nachdem Argia und Antigone Polynikes gemeinsam betrauert und dann, ohne es zu ahnen, seinen Leichnam auf den Scheiterhaufen des Eteokles gelegt haben, ‚explodiert‘ der Hass der Brüder. Von der Liebe des Polynikes zu Argia ist nichts übrig. Doch Argia findet in Antigone, die unabhängig von ihr dasselbe gefährliche Wagnis auf sich genommen hatte, eine bessere ‚Schwester‘. Auf die hoch emotionale Bestattungsszene folgt als Kontrast die mit komischen Elementen angereicherte Wächterszene.

Akt 5

Das letzte Buch der Thebais endet offen: Die toten Argiver können zwar durch das militärische Eingreifen des athenischen Königs Theseus bestattet werden. Aber das ist nur ein vorläufiger Schluss, keine Lösung des Konflikts. Andeutungen weisen darauf hin, dass der Kampf in der nächsten Generation weitergehen wird: Die Söhne der Sieben, die sog. Epigonen, werden Theben erneut angreifen. Statius konnte sich darauf verlassen, dass seine zeitgenössischen Leser:innen diese Andeutungen verstehen. Wir haben das konkretisiert: Der fünfte Akt spielt 10 Jahre nach den in den Akten 1 bis 4 geschilderten Ereignissen. Argia kehrt in Begleitung ihres inzwischen erwachsenen Sohnes Thersander nach Theben zurück, um gemeinsam mit Antigone den Frieden zwischen den beiden Städten zu feiern. Eine Festrede Thersanders scheint die besten Hoffnungen für die Zukunft zu bestätigen. Alle singen: „Ubi nunc est Furor belli, / ubi est Discordia?“ (nach der Melodie von Ludwig van Beethoven, „Freude schöner Götterfunken“). Doch es kommt anders: Thersander rächt den Tod seines Vaters. Doch auch bei uns bleibt der Schluss wie bei Statius letztlich offen. Das Stück endet mit einer Szene in der Unterwelt: Argia und Antigone scheinen sich zu erkennen, obwohl Totengeister ja zumindest nach homerischer Auffassung alle Erinnerung verlieren. Die Liebe der ‚Schwestern‘ ist so ewig wie der Hass der Brüder. Untermalt wird die Schlussszene mit einem Saxophon-Solo (Matt Maltese, „As the world caves in“), das an die Bedeutung der Musik und speziell des Aulos in der griechischen Tragödie erinnern soll.

Der Kreislauf der Gewalt: die Aktualität des Stoffes

Das Motiv der Wiederholung der Verbrechen findet sich nicht nur am Ende der Thebais, es beherrscht überhaupt die gesamte thebanische Geschichte. Mythisch könnte man von einem Geschlechterfluch sprechen, aber Statius deckt fast wie ein Historiker die Mechanismen auf, die zu diesem Kreislauf der Gewalt führen: das Streben nach Macht um ihrer selbst willen und die Korruption durch Macht. Als Kreon die Ödipus-Söhne als Herrscher über Theben ablöst und prompt in dieselben Fehler verfällt, die zum Tod der Brüder geführt haben, bricht der Erzähler gleichsam in Verzweiflung über die Lernunfähigkeit seiner eigenen Figuren in den folgenden Kommentar aus (Theb. 11,654-658):

„Da besteigt Kreon Thebens traurigen Thron,

der Tyrannen den Tod bringt. Oh verführerische Herrschaft

und zum Verbrechen anstiftende Machtgier! Nehmen sich neue Herrscher

denn nie das Schicksal der alten zu Herzen? Aber nein! Man stellt sich erfreut

auf den schrecklichen Platz und betastet die blutige Macht mit den Händen.“

Statius traf hier einen Nerv der Zeit, lagen doch die Bürgerkriege nach dem Tod des Kaisers Nero noch nicht lange zurück. Aber auch heute hat die Thebais leider nichts von ihrer Aktualität verloren. Die erste Fassung des Skripts von „Antigone und Argia“ wurde Anfang 2022 kurz vor Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine fertiggestellt, die dritte Aufführung am 24.02.23 fand am Jahrestag des Kriegsbeginns statt: numquamne priorum haerebunt documenta nouis?

Aufführungen

  • 15. September 2022, 19:00 s.t., HS A, Universitätscampus AAKH, Hof 2 im Rahmen von „Arts & Science“. (Abendspielzettel)
  • 06. Dezember 2022, 19:30, HS A, Universitätscampus AAKH, Hof 2. (Abendspielzettel)
  • 24. Februar 2023, 19:30, HS A, Universitätscampus AAKH, Hof 2 im Rahmen der 9. Internationale Tagung zur Fachdidaktik der Klassischen Sprachen in Österreich. (Abendspielzettel)
  • 21. April 2023, 20:30, HS B, Universitätscampus AAKH, Hof 2 im Rahmen der "Langen Nacht der Antike (Nox Latina)" (Abendspielzettel)

Vorstellung des Projekts an der Universität Warschau (online)

Gerhold, Katharina & Kunz, Eric: Statius’ Thebais on Stage - A Workshop Report from the University of Vienna. Beitrag zum Workshop "Antiquity today II - Inspiring, Inclusive, Universal", The International Students’ and PhD Students’ Conference - Faculty of "Artes Liberales", Universität Warschau, 16.10.2023 (online) - Abstracts

Literatur

Heil, A.‚To boldly go where no woman has gone before‘. Argias metaphorische Katabasis im zwölften Buch von Statius’ Thebais, in: C. Schwameis, B. Söllradl (Hgg.): Gattungstheorie und Dichtungspraxis in neronisch-flavischer Epik, Berlin et al. (im Druck).

Heil, A., … miseros reminiscitur actus: Die Begegnung von Argia und Antigone in Statius, Thebais 12,360-388 als Lesedrama (in Vorbereitung).

Papaioannou, S. und Marinis, A. (Hgg.): Elements of Tragedy in Flavian Epic. Berlin et al. 2021.

Heil, A., Statius on stage : "Argia und Antigone oder das Lied von Theben". Dramatische Bearbeitung der Bücher 11 und 12 der Thebais. in: Ianus : Informationen zum altsprachlichen Unterricht. 2023 ; Band 44. S. 25-47.